Menschen sterben und wir haben uns daran gewöhnt – Über Gesellschaft, Verlust und Abstumpfung

Kurz nach dem Einschlafen gestern Nacht hatte ich einen furchtbaren Alptraum. Ich träumte, dass ein Freund zuhause von der Leiter gefallen war, hilflos und allein in seinem Haus lag und elend an seinen Verletzungen starb, weil es niemand ahnte und ihm zu Hilfe kam. Ich schreckte hoch, ich fand bis zum Morgengrauen nicht mehr in den Schlaf.

Irgendwann gelang es doch und als ich am frühen Vormittag meinen ersten Kaffee trank und die Nachrichten überflog, traf mich eine Schlagzeile besonders hart: „Seit einem Jahr sterben Menschen an Corona und wir haben uns daran gewöhnt.“ Tatsächlich habe ich diesen Artikel nicht gelesen. Ich kenne nur die Überschrift. Tatsächlich aber ist die Überschrift gar nichts Aufregendes. Sie ist nicht neu, sie ist nicht besonders überraschend und sowieso ist sie nicht einmal kreativ. Sie ist einfach: zynisch, bitter – und unfassbar wahr.

Solche Überschriften und mehr oder weniger ausführliche Artikel rund um die Verstumpfung menschlicher Emotionalität haben wir seit Jahren. Als es eine Hochphase terroristischer Anschläge in Europa gab, haben wir uns scheinbar an den Terror gewöhnt. Wenn es Kriege gibt irgendwo auf der Welt, regen wir uns nicht mehr auf – wir haben uns daran gewöhnt. Bei Naturkatastrophen oder

Reaktorunfällen regen wir uns nicht mehr auf – wir haben uns daran gewöhnt. Wenn Kinder missbraucht und Skandale aufgedeckt werden – nichts Neues, wir haben uns daran gewöhnt. Wenn es sexuelle Übergriffe gibt – nichts Neues, wir haben uns daran gewöhnt. Rassistische, antisemitische, antimuslimische Gewalt- oder Straftaten – wir können es nicht mehr hören, wir wissen es doch, ist doch nichts Neues, wir haben uns daran gewöhnt. Und jetzt haben wir uns eben auch an Corona gewöhnt. An die Infizierten, die Gefahr, die Toten – wir sind müde, es reicht, wir haben uns eben ans Sterben gewöhnt.

Aber wie gewöhnen wir uns eigentlich? Wie kann das eigentlich sein? Sind wir emotional so stumpf geworden, unsere Gesellschaft so verroht, dass es uns egal ist, wie viele menschliche Verluste wir erleiden müssen? Ist es uns tatsächlich wichtig, zu diskutieren, ob sie an oder mit Corona verstorben sind? Die mehr oder weniger gleichen Fragen gelten in Bezug auf Terrorismus oder Naturkatastrophen. Nehmen wir wirklich gerne für unsere eigene Freiheit in Kauf, dass wir Menschen aufgrund von Terrorakten verlieren? Ist es uns wirklich egal, wenn ein Land ein halbes Naturwunder verliert oder Atomkatastrophen noch zehn Jahre später bewältigen muss, solange unser Gemüse oder das Dosenfutter nicht teurer wird?

Wenn ich solche Fragen stelle, bekomme ich oft die Antwort: Nein, ich möchte das nicht. Es ist mir nicht egal. Aber was soll ich denn machen? Ich denke, das ist der Kern. Der Punkt der eigenen gefühlten Hilflosigkeit. Ich kann Corona-Infizierten oder Sterbenden nicht helfen. Nichts gegen Panama-Papers tun oder den VW Konzern. Ich bin machtlos, wenn es um Naturgewalten oder Menschen in den Außenlagern Europas und Flüchtlingslagern der Welt geht. Ich? Nun, wer bin ich denn, etwas ändern, tun zu können? Und das ist doch der Punkt, an dem ich mir dringend wünsche, dass Deutschland und Europa endlich erwacht. Die junge Generation, die denkende Mitte. All jenen, den ein Toter nicht egal ist, den es immer noch berührt – der sich nicht an Umstände gewöhnt hat und dem es recht egal ist, solange sein eigenes Leben weder emotional noch finanziell betroffen ist.

 

Denn die Summe all jener, die sich scheinbar an all das gewöhnt haben, muss doch recht hoch sein, wenn es gesellschaftsrelevant ist, oder? Was, wenn die Summe jener nicht querdenkt, sondern einfach sagt, dass sie sich nicht gewöhnt haben? Dass Pflichten nachkommen auch bedeutet, dass Rechte einhergehen. Wenn die Summe der Menschen sich erhebt und gegen diese Systeme spricht, kann es doch nur gegen das System sprechen, oder?

Denn gerade in diesen Tagen kann ich euch aus persönlicher Erfahrung und Erlebnissen sagen: An Tote gewöhnt man sich nicht. An Menschen, die um ihr Leben kämpfen, nicht. Nicht, sobald diese Version der Macht der Gewohnheit plötzlich, unerwartet und uneingeladen mit voller Breitseite in dein Leben tritt. Denn was sagst du dann deiner Mutter, deinem Kind, deinem Partner, dem Partner deiner besten Freundin: Tja, ist halt so, dass du stirbst. Ich habe mich eben dran gewöhnt, dass es so ist?

Aber es wird nicht passieren. Vorerst nicht, lange Zeit erst noch nicht. Denn gerade wir in Europa, in Deutschland – wir sind es gewohnt, uns zu gewöhnen. Nicht geschlossen gegen Außenlager, Menschenrechtsverletzungen, Tote und Erkrankte, Terror, Hass und Rassismus zu sein. Die Frage ist: Was brauchen wir eigentlich, um endlich FÜR etwas zu sein statt permanent der Einfachheit halber gegen alles, jedes, dem und dies?

Fragen sollten wir uns eigentlich eines und das würde ich gerne mal lesen: Was verbindet uns eigentlich? Was sind noch die Grundlagen, die uns vereinen? Denn die, die uns trennen, kennen wir bereits. Wo ist also die Wunde, die ein Pflaster oder einen Verband braucht, um wieder zu heilen?

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